WWW-Tipp der Woche 49/2000

Als MARGARET SANGER (vgl. Surftipp 20/2000) angeklagt war und nicht ausgeschlossen schien, daß sie sich auf einen Handel einlassen würde, milde Strafe - Schuldbekenntnis, schrieb ihr eine andere Pionierin der Geburtenkontrollbewegung ins Gefängnis:

Die Autorin war EMMA GOLDMAN, eine ältere Aktivistin der Geburtenkontrollbewegung. (Ihr Name dient heute der Emma-Goldman-Clinic als Domäne.) Sie hatte MARGARET SANGER zu den Protesten gegen die Comstock-Gesetze gebracht. Wie diese arbeitete sie New York als Krankenschwester, gehörte zur Neomalthusianischen Bewegung und schmuggelte Verhütungsmittel in die USA. 1916 wurde ihr der Prozeß gemacht, was sie zur Propaganda für ihre Ziele nutzen konnte. Mehr zu den benutzten Begriffen in Surftipp 20/2000.

Die Universität Berkeley stellt in einer Online-Ausstellung ihr GOLDMAN-Projekt vor. Die dortigen Informationen über


http://sunsite.berkeley.edu/Images/emmaportrait2.jpg

sind so umfangreich, daß ich eigentlich jetzt schon den Surftipp beenden kann. Hinzu kommen noch

Ich möchte aber doch noch beschreiben, warum die hierzulande nicht sonderlich bekannte EMMA GOLDMAN wichtig war. Außerdem findet man im WWW noch andere Darstellungen, von denen ich noch einige empfehlen will.

EMMA GOLDMAN wurde am 27.6.1869 im jüdischen Getto von Kovno, Litauen geboren. Kindheit und Jugend verbrachte sie in Kovno, Popelan, Königsberg und St. Petersburg. Im Dezember 1885 emigrierte sie mit ihrer Schwester HELENA in die USA. Sie war eine bedeutende Anarchistin. Weil diese politische Richtung eher ver- als bekannt ist, überrascht es vielleicht, wenn ich darin liberale Züge entdecke.

Weil sie meinte, daß die Menschen im Grunde gut waren (sie kannte den Straßenverkehr anscheinend nicht), folgerte sie, daß unbegrenzte Freiheit das Potential der Menschen freisetzen würde. Das würde zu Zusammenarbeit gegen Armut, Gewalt, Ungleichheit und Mangel an Vorstellungskraft führen.

Neben der Geburtenkontrolle verfolgte sie auch andere praktische Ziele, z.B. die Rede- und Pressefreiheit und den Acht-Stunden-Arbeitstag. Politisiert wurde sie durch die Hinrichtung von Anarchisten, denen das Attentat vom Haymarket Square in Chicago am 4.5.1886 zur Last gelegt worden war. Am 3.5. war ein Demonstrant gegen den Schutz von Streikbrechern bei der McCormick Harvesting Machine Company von der Polizei erschossen worden. Eine friedliche Protestversammlung am folgenden Tag wurde von der Polizei aufgelöst. Da warf jemand (aber wer?) eine Bombe, die 7 Polizisten tötete und 60 verletzte. Dafür wurden vier Anarchisten am 11.11.1887 hingerichtet, einer beging Selbstmord und drei blieben bis zur Begnadigung 1893 in Haft.

Links zum Haymarket-Anschlag:

  • The Dramas of Haymarket
    Chicago Historical Society, The Trustees of Northwestern University
    Comprehensive exhibit on the events, causes, and legacy of the late-nineteenth century Haymarket Riot in Chicago. The seven-chapter project traces the development of the incident from its societal and historical roots to the actual events of the bombing, riots, trial, execution, pardon, and its ultimate legacy for Chicago. Each chapter includes a detailed narrative along with photos, original illustrations, and audio clips that give users a complete scope of the events. These combined elements also illuminate a complete view of one of the important developments in American labor relations.
  • Haymarket Martyr: ALBERT PARSONS's Last Words to His Wife
    American Social History Project, Center for Media and Learning
    Letter from Parsons to his wife, written in 1886 as he awaited death for his conviction in Chicago's Haymarket Square bombing.
  • Decline of the anarchist movement from "anarchism" (Encyclopedia Britannica)
  • Haymarket Riot (Encyclopedia Britannica)
Auch in deutsch wurde zum Protest aufgerufen:


http://www.chicagohistory.org/dramas/act2/essayImg/pe5Text.jpg

Diese Ereignisse hatten damals in den USA mindestens die Signalwirkung, die der Schahbesuch mit dem Tod BENNO OHNESORGs 1967 in der BRD hatte. 1889 lernte EMMA GOLDMAN in New York den aus Deutschland emigrierten JOHANN MOST und ALEXANDER BERKMAN kennen, letzterer wurde ihr Geliebter. Die Ehe lehnte GOLDMAN ab. In den GOLDMAN-Papieren befinden sich viele Liebesbriefe, die sie mit BERKMAN wechselte. Als sie begann, ihre Papiere für die Nachwelt zu ordnen (sie plante, die dem Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis zu übergeben, vgl Surftipp 2/2000), war für sie ganz klar, daß nichts ausgesondert oder vernichtet werden durfte und alles der Forschung zugänglich sein sollte. Das stelle man sich mal bei HELMUT KOHL vor, der schon jetzt auf das Verschweigen setzt!

EMMA GOLDMAN besuchte Europa (London und Wien), lebte in Sowjetrußland, Schweden, Deutschland, England, Frankreich, Spanien und Kanada. In London beobachteten sie deutsche Polizeiagenten, um ihre Verhaftung bei der Einreise nach Deutschland vorzubereiten. Ihr Einfluß reichte aber noch weiter:

    Although the material from countries that GOLDMAN visited or lived in has intrinsic biographical interest, other items in the collection from countries such as Japan, China, and Italy that GOLDMAN never visited illustrate the ways in which social movements in different countries influence each other. In Japan, for example, a fledgling women's movement in the 1920s translated and published GOLDMAN's early essays on marriage and love and on sexual freedom, thus relying on the writings of an outsider to articulate what might have been taboo for a woman within the Japanese culture to express. GOLDMAN's international stature made these controversial ideas more palatable in Japan. In China, revered novelist BA JIN, leader of the Union of Chinese Writers, considered GOLDMAN his "spiritual mother" and dedicated two of his books to her.

Im April 1904 hatte der Oberste Gerichtshof (Supreme Court) im Fall JOHN TURNER (Turner v. Williams, 194 U.S. 279) dem Congress die unbegrenzte Macht gegeben AusländerInnen auszuschließen oder zu deportieren, einschließlich philosophischer Anarchisten.

Die manchmal übertriebene Furcht vor AnarchistInnen rührte auch daher, daß 1901 LEON CZOLGOSZ US-Präsident WILLIAM MCKINLEY ermordet hatte. Auch sie selbst hatte früher mal mit Mordgedanken gespielt:

    In the early days GOLDMAN supported the idea of propaganda by deed. In 1892, together with ALEXANDER BERKMAN she planned the assassination of HENRY CLAY FINCH, [wahrscheinlich FRICK gemeint, N.S.] who has suppressed strikes in the Homestead Pennsylvania factory with armed guards. She even tried unsuccessfully to work as a prostitute to raise money for the gun. They believed that by killing a tyrant, a representative of a cruel system, the consciousness of the people would be aroused. This didn't happen.

vgl. "I Will Kill FRICK". EMMA GOLDMAN Recounts the Attempt to Assassinate the Chairman of the Carnegie Steel Company During the Homestead Strike in 1892


http://sunsite.berkeley.edu/Goldman/Exhibition/eg24.jpg

GOLDMAN und BERKMAN 1917 vor Gericht

Die Deportation wurde ihr schon 1908 in Chicago angedroht. Der Alien Immigration Act von Februar 1917 erlaubte ebenfalls die Abschiebung von EinwanderInnen. Am 15 Juni desselben Jahres wurde sie und BERKMAN verhaftet, zwar gegen 25.000 $ Kaution vorübergehend freigelassen, aber am 9.7. für schuldig befunden. Der Richter empfahl ihre Abschiebung. Trotz vielfacher Proteste dagegen wurden sie am 21.12.1917 mit 247 anderen Radikalen auf der S.S. Buford nach Rußland abgeschoben. Vgl. "I Glanced Up -- The Statue of Liberty!" EMMA GOLDMAN Describes Her Deportation in the Era of the Red Scare

Am 19.1.1918 wurden sie in Belo-Ostrov in Rußland freundlich empfangen.

Sie traf schon im März LENIN und berichtete darüber in ihrer Autobiographie. Bestätigung aus sowjetischen Archiven ist aber erst seit GORBATSCHOW möglich. Sie trat auch dort für Redefreiheit ein und warnte vor der Unterdrückung von Dissidenten. Das erinnert etwas an ROSA LUXEMBURGS Warnungen. Ihr Buch My Disillusionment in Russia erschien später in mehreren Ländern. Sie forderten, die Russische Gesellschaft für Amerikanische Freiheit unabhängig von der Dritten Internationalen zu errichten und die Verhaftung und angedrohte Execution des Anarchisten V. M. EIKHENBAUM (VOLIN) führten zu dessen Freilassung. (Später wurde er wieder verhaftet und nach einem Hungerstreik mit anderen Anarchisten unter Androhung der Todesstrafe ausgewiesen.) Monatelang bereisten sie Rußland und lernten bedeutende Vertreter der dortigen Anarchisten sowie andere ausländische Besucher (z.B. BERTRAND RUSSELL) kennen. Diese relativ kurze Zeit führte schon zur Klarheit über die bolschewistische Politik. Den dritten Jahrestag der "Oktoberrevolution" erlebte GOLDMAN "more like the funeral than the birth of the Revolution". Der Matrosenaufstand in Kronstadt im März 1921 brachte den endgültigen Bruch von GOLDMAN und BERKMAN mit den Bolschewisten.

Im Dezember 1921 können GOLDMAN und BERKMAN Rußland verlassen, um das Kropotkin-Museum in Berlin bei einer internationalen Anarchistenkonferenz zu vertreten. Sie bekommen schwedische Visas. In Stockholm treffen sie Verfechter der Geburtenkontrolle.

1923 lernt sie in Berlin MAGNUS HIRSCHFELD (vgl Surftipp 16/2000) kennen.

Ende 1924 verläßt sie Deutschland und setzt in England ihre Aufklärungsarbeit über die Zustände in Sowjetrußland fort. In den folgenden Jahren hält sie sich auch in Frankreich, Kanada, Belgien, den Niederlanden und Spanien auf. Erst Ende 1933 erhält sie erstmals seit ihrer Deportation ein Dreimonatsvisum für die USA.

Sie kennt Spanien schon von früheren Besuchen und nimmt am Bürgerkrieg vor allem beobachtend und berichtend teil. Sie berichtet von den Verhaftungen von nicht-stalinistischen Linken, vor allem Anarchisten, in der spanischen Republik. Immer wieder fällt mir positiv auf, wie schnell EMMA GOLDMAN die schlechten Seiten eines Staates oder einer Regierung erkennt. Im NEUEN DEUTSCHLAND hingegen galt "Spanienkämpfer" für ERICH MIELKE, der an der Verfolgung der Anarchisten beteiligt war, noch vor wenigen Jahren als Auszeichnung.

Am 17.2.1940 erleidet EMMA GOLDMAN einen Schlaganfall, kann nicht mehr sprechen und ist halbseitig gelähmt. Sie stirbt am 14.5.1940 und ist auf dem Waldheim-Friedhof in Chicago begraben.


http://www.findagrave.com/images/g/goldmanemma.jpg
Living My Life
by EMMA GOLDMAN

Paperback Vol 002 (June 1930)

Dover Pubns; ISBN: 0486225445 ;
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http://www.erraticimpact.com/~feminism/images/cover_goldman.gif
Anarchism, and Other Essays
by EMMA GOLDMAN

Paperback (June 1970)

Dover Pubns; ISBN: 0486224848 ;
Dimensions (in inches): 0.61 x 7.97 x 5.42

war bei RezensentInnen und LeserInnen fast genau so erfolgreich


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Red EMMA Speaks : An EMMA GOLDMAN Reader
by EMMA GOLDMAN

Paperback

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Weitere Links zu EMMA GOLDMAN:

Nächste Woche stelle ich einen anarchistischen Mann vor.

 

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