Trotz allem - hilfreich

Das Streitkultur-Papier von SPD und SED. Fünf Jahre danach.

Eine Stellungnahme der Grundwertekommission

1. Der geschichtliche Ort des Papiers
2. Ziele und Inhalte des SPD-Papiers von 1987
3. Die Wirkungen des Papiers
4. Der Widerruf des Papiers durch die SED-Führung
5. Das Papier im Rückblick
6. Der moralische Aspekt
Mitglieder der Grundwertekommission


1. Der geschichtliche Ort des Papiers

Daß die in den 50er Jahren dominierende Politik der politischen Konfrontation, der ideologischen Feindbilder und des verbalen Schlagabtauschs zwischen Ost und West die Teilung Deutschlands und Europas nur noch weiter vertieft hatte, war spätestens 1961 mit dem Bau der Berliner Mauer unübersehbar geworden. Jetzt, nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems in Zentral- und Osteuropa, sehen wir deutlicher, daß die Spannungen und Ängste des Kalten Krieges die sowie tische Vorherrschaft in diesem Teil der Welt auf lange Zeit eher begünstigt als gefährdet haben.

Das vom Osten liebevoll gepflegte Feindbild eines revanchistischen Deutschland hat nach dem Zweiten Weltkrieg dazu beigetragen, daß sich viele Polen, Tschechen oder Ungarn, aber auch viele Menschen in den westlichen Unionsstaaten der Sowjetunion mit der Herrschaft des Sowjetkommunismus als dem kleineren Übel abfanden.

Als der Westen nach mehr als einem Jahrzehnt der Konfrontation, nach der brutalen Niederwerfung der Aufstände von 1953 in der DDR und 1956 in Ungarn ohnmächtig zusehen mußte, wie ULBRICHT die DDR hermetisch abschließen konnte, begannen Sozialdemokraten über vorsichtige, schrittweise Verbesserungen im Verhältnis der Blöcke, insbesondere der beiden deutschen Staaten, nachzudenken. Wenn den Menschen, die unter kommunistischer Diktatur zu leben hatten, durch einen Krieg der Worte nicht gedient war, konnte vielleicht eine Politik der Annäherung ihnen das Leben erleichtern. Spätestens 1982 haben alle politischen Parteien in der Bundesrepublik diese Politik übernommen. Daß dies noch im Spätsommer 1987 so war, zeigt der Staatsbesuch ERICH HONECKERs in Bonn Anfang September 1987.

Sicher, von Sozialdemokraten stammt der heute von konservativer Seite häufig zitierte Satz, die Wiedervereinigung sei eine" Lebenslüge" geworden. Aber auch die CDU-Führung legte 1988 einen Entwurf für ein neues Programm vor, in dem die Wiedervereinigung nicht mehr vorkam. HELMUT KOHL drückte es ein Jahr zuvor beim Empfang für ERICH HONECKER so aus: "Die deutsche Frage bleibt offen, doch ihre Lösung steht zur Zeit nicht auf der Tagesordnung der Weltgeschichte!"

Und etwas anderes mußte berücksichtigt werden, worauf ERHARD EPPLER bei seiner Rede am 17. Juni 1989 in der Gedenkstunde des Deutschen Bundestages hingewiesen hat, nämlich die europäische Dimension: "Die häßliche Wand aus Eisen und Beton, die durch Deutschland gezogen wurde, hat mehr mit der Statik dieses europäischen Hauses zu tun, als uns lieb ist. Wer sie abreißen will, muß die Statik des ganzen Hauses neu durchrechnen, möglicherweise das ganze Haus umbauen. Was aus Deutschland wird, interessiert alle Europäer."

Keine politische Partei in Deutschland rechnete mit einem raschen Zusammenbruch der DDR oder gar des kommunistischen Weltsystems. Alle waren sich darin einig: jeder gewaltsame Versuch, Veränderungen von außen zu bewirken, beschwor die Gefahr einer sowjetischen Intervention und damit eines Atomkrieges. Niemand hat dies so schroff formuliert wie HENRY KISSINGER in den 70er Jahren:

"Wir sehen uns heute zum ersten Mal in unserer Geschichte der nackten Tatsache gegenüber, daß die (kommunistische) Herausforderung nie enden wird ... Wir müssen lernen, eine Außenpolitik zu betreiben, wie sie andere Länder jahrhundertelang betreiben mußten: Ohne Ausweg und ohne Atempause ... Diese Bedingung wird sich nie ändern!' (HENRY KISSINGER, The permanent challenge of peace. USA-Policy toward the Sovietunion, in: Derselbe, American-Foreign-Policy, 3. Aufl., New York, S. 302).

Die Alternative zu kleinen Schritten der Entspannung war resigniertes Nichtstun.

Erst MICHAIL GORBATSCHOW hat mit seinem "neuen Denken" die Koordinaten der Ost-West-Politik nachhaltig verändert. Aber GORBATSCHOW und seine Politik wären ohne die Ost- und Entspannungspolitik nicht denkbar gewesen. GORBATSCHOW setzte sie voraus und baute seine Reformpolitik darauf auf. Die Politik der Verträge, der Kooperation, des KSZE-Prozesses und die vielen kleinen Schritte zur Begrenzung und zum Abbau der Ost-West-Konfrontation haben wesentlich dazu beigetragen, die Blockbinding im Warschauer Pakt zu lockern, die Führung der Sowjetunion aus ihrer Fixierung auf den kapitalistischen Feind zu lösen. Dabei war es wichtig, daß ausgerechnet von den Deutschen wichtige Initiativen ausgingen. Waren die anderen Nationen des Westens den Menschen in Polen, der Ukraine oder Rußland als Freunde und Verbündete in Erinnerung, so mußte die Furcht vor den Deutschen nicht ideologisch begründet und durch Propaganda erst geschaffen werden. Daß ein Deutscher den Friedensnobelpreis erhielt, daß die deutsche Friedenbewegung die stärkste in Europa war, auch dies hat das politische Klima in Osteuropa verändert, Dissidentenbewegungen begünstigt und schließlich auch den Führungswechsel in der Sowjetunion erleichtert.

Daß der Umbruch im Osten fast überall gewaltlos geschah, daß die sowjetische Armee nicht wie 1953, 1956 und 1968 ihre Panzer rollen ließ, daß es in Europa keine"chinesische Lösung" gab, ist auch Ergebnis eines durch die Entspannungspolitik veränderten Klimas.

Natürlich war auch die Entspannungspolitik mancher Kritik ausgesetzt, auch aus der SPD selbst. Es gab Sozialdemokraten, die sich zwar nicht gegen diese Politik wandten, sie aber ergänzt sehen wollten durch offensive ideologische Auseinandersetzungen und klare, öffentliche Parteinahme für die Personen und Gruppen, die sich gegen die kommunistische Diktatur auflehnten. Dies ist zwar immer wieder geschehen, aber häufig zogen es Sozialdemokraten vor, Fragen der Menschenrechte in den nichtöffentlichen Gesprächen mit den Regierenden vorzubringen. Das mag im Einzelfall sogar mehr Erfolg gehabt haben, es ließ aber auch bei manchen den Eindruck entstehen, die SPD entscheide sich, wo zwischen Frieden und Menschenrechte zu wählen sei, gegen die Menschenrechte. Vieles spricht dafür, daß das offensive und öffentliche Drängen auf beides, Frieden und Menschenrechte, in den späteren Phasen der Entspannungspolitik eher möglich gewesen war als zu deren Beginn.

Es ist wohl richtig, daß Teile der SPD, auch ihrer Führung, aus den Erfolgen der eigenen Ostpolitik die möglichen und fälligen Konsequenzen nicht rasch und entschieden genug gezogen haben.

Zu spät nahmen sie wahr, daß in den Staaten Mittel- und Osteuropas die Gesellschaften selbst in Bewegung geraten waren, daß somit - spätestens seit Anfang der 80er Jahre - neben den weiterhin notwendigen Kontakten zu Vertretern von Staat und Partei Beziehungen zu den überall entstehenden Bürgerbewegungen treten mußten.

Nun gab es solche Beziehungen zwar in nicht geringer Zahl - man denke nur an die vielfältigen Kontakte von SPD-Politikern zu den Kirchen und den Oppositionsgruppen im Ostblock - aber die offizielle Politik der SPD konzentrierte sich meist auf Staats- und Parteikontakte. Als in den 80er Jahren die Risse und Brüche im östlichen Herrschaftssystem deutlicher wurden, hatten diese offiziellen Kontakte dringend durch die Intensivierung der Kontakte zur gesellschaftlichen Opposition ergänzt werden müssen.

Die Gründe, weshalb dies nicht in ausreichendem Maße geschah, lagen sicher nicht darin, daß die SPD und ihre Führung mit den Regimen in Mittel- und Osteuropa sympathisierte oder es in Fragen der Menschenrechte an Prinzipientreue fehlen ließ. Offenbar hatten sich führende Akteure der SPD-Ostpolitik zu sehr an den bitteren, aber durchaus richtigen Ausgangspunkt dieser Politik gewöhnt: daß nämlich Fortschritte in den Ost-West-Beziehungen und Erleichterungen für die Menschen im Osten nur zu erreichen waren, wenn alles unterblieb, was von den ouml;stlichen Regimen als "Destabilisierung" empfunden wurde. Freilich - dies laßt sich keineswegs nur der in der Opposition stehenden SPD, sondern auch der Bundesregierung und zugleich den meisten anderen westlichen Regierungen vorwerfen.

Am 25. September 1992 stellt die Grundwertekommission ihre Stellungnahme vor.
Von links nach rechts: THOMAS MAYER, ERHARD EPPLER, WOLFGANG THIERSE, RICHARD SCHRÖDER.

2. Ziele und Inhalte des SPD-Papiers von 1987

a) Die SED war 1987 die Macht, die in der DDR entschied, ob die Spielräume für Dialog, Bürgerbeteiligung, gesellschaftliche Selbstorganisation größer oder kleiner wurden. Sie war 1987 nicht nur die Regierungspartei, die in Europa mitentschied, ob die Chancen der Friedenspolitik wuchsen und die Risiken aus der Überrüstung beherrschbar würden. Nach innen schwankte sie, ob sie sich dem Liberalisierungssog, der von GORBATSCHOWs Perestroika-Politik ausging, entziehen könne.

Die SPD war 1987 die Partei, die durch die spürbaren Erfolge ihrer Entspannungspolitik der Frage nicht langer ausweichen konnte, warum sie ihrer zwischenstaatlichen Kooperationspolitik nicht eine offensive Auseinandersetzung mit dem anderen Gesellschaftssystem hinzufügte, indem sie überall beim Namen nannte, was ihrem Verständnis von Menschenwürde, Demokratie und Gerechtigkeit dort so handgreiflich widersprach. Hintergrund weitergehender Gespräche waren Vertragsentwürfe von SPD und SED für chemie- und atomwaffenfreie Zonen in Europa. Es ging auch darum, die friedenspolitischen Initiativen auf eine neue Basis zu stellen und die Entspannungspolitik zu sichern, dabei aber zugleich das Schlagwort vom "Wettbewerb der Systeme" ernst zu nehmen und die Debatte um die Bilanz der Systeme in Ost und West ernsthaft, glaubwürdig, öffentlich und offensiv aufzunehmen, und zwar innerhalb beider Systeme und zwischen den Systemen.

Diese Absicht schlägt sich nieder im SPD-SED-Papier. Anlaß dazu gab eine Diskussion darüber, was eine Politik gemeinsamer Sicherheit, nimmt man den Begriff ernst, auch für die Ideologien in Ost und West bedeute. Da es nur im Osten Staatsideologien gab, war dies vor allem eine Frage an die Kommunisten. Die Grundwertekommission der SPD nahm dabei eine Position ein, die von manchen in der eigenen Partei kritisiert wurde: sie argumentierte stellvertretend für die westliche Demokratie und nur da, wo es unvermeidlich war, als eine Partei, die mit der SED auch darüber im Streit lag, was Sozialismus sei.

Der Parteirat der SPD stellte dazu am 18. November 1987 ergänzend fest: "Unabhängig davon bedarf auch die Stellung des von der SPD vertretenen Demokratischen Sozialismus' zu den Gesellschaftssystemen in Ost und West weiterer Diskussion. Die SPD identifiziert sich keineswegs mit dem 'westlichen' Gesellschaftssystem als Ganzem. Sozialdemokraten lehnen ungebändigten Kapitalismus und Imperialismus - insbesondere dann, wenn sie Freiheit und Demokratie gefährden - genauso prinzipiell ab wie den sogenannten realen Sozialismus'."

Die SPD gab sich nicht zufrieden mit der von der SED in den Vordergrund gestellten Formel von der "friedlichen Koexistenz", die eher einen immer wieder verlängerten Waffenstillstand als einen Frieden nach dem Prinzip der gemeinsamen Sicherheit meinte. Friedliche Koexistenz sollte so lange dauern, bis "der Kapitalismus an seinen eigenen Widersprüchen zugrunde gegangen" sein wurde, der Begriff enthielt also eine Spekulation auf den Zusammenbruch der anderen Seite. Darauf zielte der Satz des Papiers:

"Unsere Hoffnung kann sich nicht darauf richten, daß ein System das andere abschafft. Sie richtet sich darauf, daß beide Systeme reformfähig sind und der Wettbewerb der Systeme den Willen zur Reform auf beiden Seiten stärkt. Koexistenz und gemeinsame Sicherheit gelten also ohne zeitliche Begrenzung!" (IV, 1)

Nachdem inzwischen ein System sich selbst abgeschafft hat, weil es sich als nicht reformfähig erwies, klingen solche Sätze unrealistisch. 1987 markierten sie die völlig neue Interpretation des von Lenin zuerst verwendeten Begriffs der "friedlichen Koexistenz" und damit die Aufgabe zentraler Positionen der kommunistischen Ideologie.

Allerdings war die Forderung nach einem freien Dialog innerhalb der DDR nur sinnvoll, wenn man dem kommunistischen System die Fähigkeit zur Reform zugestand. Tatsächlich sind Reformen noch von Kommunisten eingeleitet worden. Die Bundesregierung verlangte noch im Herbst 1989 unablässig Reformen von den kommunistischen Machthabern. Daß diese Reformen so rasch in den Zusammenbruch des Systems münden würden, haben die Sozialdemokraten so wenig geahnt wie andere. Das selbst von nahezu allen Ökonomen verkannte ökonomische Desaster des "realen Sozialismus" und die daraus resultierende Unreformierbarkeit entzog den Reformbemühungen auch im politischen und gesellschaftlichen Sektor logische Grundlage.

Weil damals gemeinsame Sicherheit den 'kultivierten Streit zwischen den Systemen und innerhalb beider Systeme verlangte, ließen sich Sätze vereinbaren wie:

"Kritik und Kooperation dürfen sich nicht ausschließen."

"Es gibt also Fragen, in denen wir einig sind, andere, über die wir weiter streiten müssen. Wir werden in der Spannung von Konsens und Konflikt leben müssen!" (V, 2)

"Kritik, auch in scharfer Form, darf nicht als eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten der anderen Seite zurückgewiesen werden!" V, 5)

"Die offene Diskussion über den Wettbewerb der Systeme, ihre Erfolge und Mißerfolge, Vorzüge und Nachteile, muß innerhalb jedes Systems möglich sein!' (V, 6)

"Es muß zum Normalfall werden, daß wir miteinander handeln, verhandeln und zusammenarbeiten, während wir gleichzeitig da offene und klare Kritik äußern, wo nach unserem Verständnis die Friedensbereitschaft, der Wille zur Verständigung, die Menschenrechte und die Demokratie im anderen Bereich verletzt werden!" (IV, 5)

HERBERT RIEHL-HEYSE hat diese Schlüsselpassagen des Papiers im Juli 1992 in der Süddeutschen Zeitung so charakterisiert: Was da stand, war nichts Geringeres als eine Magna Charta der Meinungsfreiheit in der DDR - und abgedruckt war sie im 'Neuen Deutschland'." Und viele Bürger in der DDR, gerade Oppositionelle und Intellektuelle, haben dies so empfunden und daraus Argumente bezogen.

b) So leitete das SPD-SED-Papier eine neue Phase der Entspannungspolitik ein, in der von westlicher Seite intensive und offene Kontakte zur Opposition in der DDR mit Billigung der dortigen Staatspartei ebenso möglich wurden wie ein offener Streit über Menschenrechte, Demokratie und Pluralismus.

Es war für Sozialdemokraten überraschend, daß die SED sich darauf einließ. Verständlich wird dies nur dadurch, daß die SED-Führung in der ersten Jahreshälfte 1986, als mit der Formulierung des Papiers begonnen wurde, ernsthaft erwog, auf GORBATSCHOWs Reformkurs einzuschwenken. Reformkräfte in der SED wollten diese Chance nutzen. Als unmittelbar vor dem Besuch HONECKERs in Bonn die Zustimmung des Politbüros anstand, wagte die SED-Führung nicht, einen Text abzulehnen, der sie, wie viele Beobachter im Westen erwartet hatten, rasch das Fürchten lehren sollte.

Das Papier ließ keinen Zweifel offen, daß es Absichtserklärungen formulierte, die erst durch konsequentes Handeln zu einer neuen Praxis führen konnten. Es ging um Verfahrensregeln für eine neue Kultur des politischen Streits. Der Streit um Menschenrechte und Demokratie, das war entscheidend, konnte nun offen ausgetragen werden, und auch die Grundwertekommission nahm daran teil.

Das Papier berührte den Kern des kommunistischen Credos. Plötzlich galt der "Imperialismus" als friedensfähig, was schon rein sprachlich schwer zu vermitteln war.

Wichtiger noch war, daß das Papier nur einen Sinn ergab, wenn die Geschichte nicht determiniert war durch die Geschichtsgesetze des Marxismus-Leninismus. Wer im Streit um das bessere System die Menschen entscheiden lassen wollte, tat dies im Bewußtsein, daß die Geschichte offen ist. Die SED gab ihr geschlossenes Geschichtsbild preis.

Schließlich enthielt das Papier implizit westliche Vorstellungen von Demokratie. Es zog aus dem östlichen Schlagwort vom "friedlichen Wettbewerb der Systeme" die Konsequenz, daß nur die von den Systemen betroffenen Menschen selbst berufene Schiedsrichter über die Systeme, ihre Auswirkungen, ihre Leistungen und ihre Zukunft sein können, daß sie also in der Lage sein müssen, darüber offen zu diskutieren.

Der innere Dialog wurde zum Prüfstein ernstgemeinter Friedenspolitik. Die Beschreibung seiner Bedingungen ging in Einzelbereichen deutlich über die Normen hinaus, die in der KSZE-Schlußakte niedergelegt worden waren. Das Papier verlangte, daß die Machthaber der SED die offene Diskussion in ihrem eigenen Herrschaftsbereich nicht nur zulassen., sondern auch fördern sollten.

Das Projekt einer gemeinsamen Streitkultur verlangte nicht nur den inneren Dialog, sondern auch dessen ausschlaggebende Rolle für die praktische Politik.

c) Es ist richtig, daß an einigen Stelle auch formale und sprachliche Konzessionen an die Gleichheit beider Unterzeichner gemacht werden mußten. Dies war, wie überall dort, wo gemeinsame Absichtserklärungen nicht erzwungen werden können, eine Voraussetzung dafür, daß die zum Teil überraschend weitgehenden Konzessionen der SED in der Sache erreicht werden konnten. Die Sprache, in der das Papier verfaßt wurde, ist aber an allen entscheidenden Stellen so eindeutig, daß die Substanz eines liberaldemokratischen Verständnisses vom inneren Dialog und zwischengesellschaftlichen Wettbewerb durch keine Interpretationskünste aus der Welt zu schaffen war:

"Niemand darf für sich ein Recht der deutlichen Kritik und der polemischen Darstellung in Anspruch nehmen, ohne es dem Kritisierten im gleichen Maße zuzubilligen!" (V, 2)

"Der umfassenden Informiertheit der Bürger in Ost und West kommt im Prozeß der Friedenssicherung und des Systemwettbewerbs eine wachsende Bedeutung zu. Dazu müssen die Staaten in beiden Systemen, entsprechend der KSZE-Schlußakte, auf ihrem Territorium die Verbreitung von periodischen und nichtperiodisch erscheinenden Zeitungen und gedruckten Veröffentlichungen aus den anderen Teilnehmerstaaten erleichtern!" (V, 7)

"Der Dialog zwischen allen gesellschaftlichen Organisationen, Institutionen, Kräften und Personen auf beiden Seiten gewinnt wachsende Bedeutung für die Friedenssicherung und den Wettbewerb der Systeme. Das schließt auch Besuch und Gegenbesuch, die Teilnahme an Seminaren, wissenschaftlichen, kulturellen, politischen Veranstaltungen über die Systemgrenzen hinweg ein!" (V, 8)

Das Projekt einer gemeinsamen Streitkultur verband den offenen Dialog innerhalb beider Systeme mit dem Dialog zwischen den Systemen und machte diese Verbindung zum Prüfstein ernsthafter Friedenspolitik. Die Grundwertekommission ließ von da an auch keinen Zweifel darüber aufkommen, daß auch ein Dialog zwischen SPD und SED auf Dauer nur möglich war, wenn der Dialog innerhalb der DDR in Gang kam.

Auf den Schlußteil, in dem die praktischen Handlungsnormen festgelegt waren, kam es an. Im Mittelteil (Kap. III), in dem Menschenrechte und Demokratie, um die der Streit gehen sollte, aus der Sicht und in der Alleinverantwortung jeder der beiden Seiten beschrieben wurden, wählte die SED natürlich ihre eigene Sprache und Interpretation. Entscheidend aber war, daß die Forderungen, auf die sich Oppositionsgruppen und Kirchen in der DDR in ihrer Oppositionspraxis künftig berufen konnten, klar und eindeutig formuliert waren, so klar und eindeutig, daß die SED-Führung sich schon zwei Monate nach der Verabschiedung aus den Verpflichtungen des Papiers herauszustellen versuchte.

Fast alle Beobachter im Westen und in der DDR selbst erkannten, daß mit dem Konzept einer gemeinsamen Streitkultur die SED-Führung zentrale Dogmen preisgegeben hatte.

Das Papier enthüllte die Blöße kommunistischer Herrschaft. Es ließ keinen Zweifel, daß auch der SED keine andere Legitimationsgrundlage zur Verfügung stand als die Zustimmung ihres Volkes, wenn die SED sie denn erlangen könnte. Dies war möglich geworden in einem historisch einmalig günstigen Augenblick. Die SED-Führung war unschlüssig, wieweit sie sich dem GORBATSCHOWschen Reformkurs anschließen wollte. Und sie war sich der Notwendigkeit wachsender Kooperation mit dem Westen bewußt.

Nun kam alles darauf an, den Zielen des Papiers durch praktisches Handeln näherzukommen:

Für die westliche Seite war entscheidend, daß nun die Friedens- und Entspannungspolitik durch offene Auseinandersetzung um Menschenrechte, Demokratie und Pluralismus ergänzt, die Kontakte zu den oppositionellen Kräften in der DDR und in Osteuropa ausgeweitet werden konnten.

3. Die Wirkungen des Papiers

Das Papier über den "Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit" ist von den Oppositionsgruppen in der DDR als der Versuch begrüßt worden, nun auch die SED zu der Reformpolitik zu bewegen, die GORBATSCHOW in der Sowjetunion eingeleitet hatte, Die neuen Mitglieder der Grundwertekommission aus der früheren DDR, Mitverfasser des vorliegenden Textes, die damals in der DDR lebten und in der dortigen Opposition tätig waren, bestätigen dies aus eigenen Erfahrungen. Gerade bei den Oppositionsgruppen in der DDR, die zu Beginn der 80er Jahre gelegentlich den Eindruck hatten, die SPD-Politik rücke die Friedenssicherung gegenüber den Menschenrechten zu sehr in den Vordergrund, wurde das Grundsatzpapier begrüßt, weil es offenkundig der Versuch war, künftig beide glaubwürdig miteinander zu verbinden.

Würde das Papier von der SED-Führung wirklich ernst genommen, das war der vorherrschende Eindruck in den DDR-Oppositionsgruppen, so mußte das unabsehbare Folgen haben. Mußten Armee und Kampfgruppen nicht ohne ihr Feindbild in eine Krise geraten? Wie sollte das Instrumentarium der Desinformation und Abschottung aufrechterhalten werden? Erhöhten sich, wenn die Opposition sich auf dieses Papier berief, nicht ihre Chancen, tabuisierte Probleme anzusprechen und Defizite offen zu benennen?

Ein Beleg für die hoffnungsvolle Aufnahme des Papiers ist auch die Tatsache, daß sich diejenigen Teilnehmer des Olof-Palme-Friedensmarsches vom September 1987, die nicht unter der Botmäßigkeit der SED standen, darauf beriefen. Bei der Durchsuchung der Umweltbibliothek in Berlin im November 1987 wurden die Protokolle einer Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftung über das Papier beschlagnahmt. Sie sollten nicht in der Untergrundzeitung "Grenzfall" veröffentlicht werden. Nach den Verhaftungen im Zusammenhang mit der Luxemburg-Liebknecht-Demonstration im Januar 1988 schrieb der Ökologiekreis Wismar einen offenen Brief an den Parteivorstand der SPD und das Politbüro der SED und forderte "entsprechend dem Geist dieses Dokuments" dazu auf, die Verhaftungen zu kritisieren bzw. die Verhafteten freizulassen.

Gleiches gilt grundsätzlich für die Aufnahme des Papiers durch die evangelischen Kirchen. Sie waren schon seit Anfang der 80er Jahre für Sicherheitspartnerschaft eingetreten und sahen sich schon von daher in ihrer Haltung bestätigt. Schon kurz nach der Veröffentlichung des Textes bezog sich die Synode des Bundes der evangelischen Kirchen in Görlitz darauf und interpretierte ihn als modellhaft auch für andere Bereiche. "Dialog und Öffnung für den Andersdenkenden sind innerhalb unserer Gesellschaft eine Chance ... Sie werden als eine Form des neuen Denkens erfahren." Auch der Vorsitzende der Konferenz der Kirchenleitungen, Bischof LEICH, fühlte sich durch das Papier ermutigt zu fordern, alle Bürger müßten "Kenntnis nehmen können von Vorgängen in beiden deutschen Staaten auf eine direkte Weise durch Kenntnisnahme von Pressezeugnissen und durch das Erleben im jeweils anderen Land!"

In der Bundesrepublik war sich selbst die konservative Presse über die positiven Wirkungen des Papiers weitgehend einig. So schrieb JÜRGEN ENGERT im"Rheinischen Merkur - Christ und Welt" vom 29. 1. 1988: "In diesem Kontext ist die Bedeutung jenes Papiers gar nicht zu überschätzen, daß die Grundwertekommission der SPD und die Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED im August letzten Jahres unter dem Titel 'Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit' vorlegte. Der Prinzipienkatalog hat nicht nur innerhalb der Partei ERICH HONECKERs eine dauerhafte und heftige Debatte ausgelöst, er dient auch den Bürgerrechtlern als Berufungsinstanz." Und in der "Welt" hieß es am 7. 12. 1987 unter der Überschrift "SED unter Druck durch SPD-Papier": Wie schwer sich die SED mit den Folgen des Parteiendokuments für die Diskussion innerhalb der DDR tut, belegt auch ein in der Welt vorliegendes Informations-Blatt, in dem die SED-Parteikader darauf eingestimmt werden!"

Natürlich gab es auch Kritik. Einige der alten Gegner der Eritspannungspolitik stießen sich daran, daß überhaupt Gespräche mit der SED stattfanden, andere, auch innerhalb der SPD, hatten Einwände wegen der einen oder anderen Formulierung des Papiers, aber im großen und ganzen wurde das Unternehmen, gerade auch im Interesse der Bürgerrechtsbewegung, als nützlich beurteilt. Der Vorwurf, die SPD sei mit dem Papier der DDR-Opposition in den Rücken gefallen, war jedenfalls vor dem Fall der Mauer in West und Ost die große Ausnahme.

Aus zahlreichen Zeugnissen wissen wir, daß auch in der Staatspartei selbst das Papier den Diskussions- und Legitimationsdruck verstärkte und die SED-Führung in Schwierigkeiten brachte. SED-Mitglieder, die Anschluß an den GORBATSCHOW-Kurs suchten, begannen in ihren Gliederungen das Papier zu diskutieren und seine Normen auch für die innerparteiliche Diskussion einzuklagen. Dies konnten auch die Richtlinien nicht verhindern, mit denen die Parteiführung bald nach Veröffentlichung des Papiers den Versuch unternahm, den eigenen Funktionären eine eher taktische Interpretation an die Hand zu geben. Sie sollten das Papier als ein außenpolitisches Instrument, nicht als innergesellschaftliches Reformprojekt verstehen.

Prominente Mitverfasser des Papiers auf seiten der SED erhielten Parteiordnungsstrafen, nachdem sie sich auf den Dialog eingelassen hatten, den das Papier verlangte.

Es spricht vieles für die Darstellungen von ROLF REISSIG und MANFRED USCHNER, daß die Verunsicherung, die das Papier in der SED verursachte, dazu beigetragen hat, das dogmatische Selbstvertrauen der Staatspartei zu brechen, so daß den Kräften in der SED, die im Herbst 1989 auf eine "chinesische Lösung" setzten, im entscheidenden Moment die Entschlossenheit, der Mehrzahl der SED-Mitglieder die Bereitschaft fehlte, mit Gewalt dem Umbruch entgegenzutreten.

Das Papier hat zur innergesellschaftlichen und sogar innerparteilichen Isolation des kleinen Kerns in der SED-Führung beigetragen, der es im August 1987 nicht verhindern konnte, aber seine Umsetzung hintertrieb, sobald es verabschiedet war.

4. Der Widerruf des Papiers durch die SED-Führung

Nachdem der HONECKER-Besuch in den Augen der SED-Führung erfolgreich absolviert war und die Diskussion um Reformen in der DDR innerhalb und außerhalb der SED immer drängender wurde, bekam die Parteiführung Angst vor der eigenen Courage. Der SED-Chefideologe KURT HAGER sah sich schon am 28. Oktober 1987 in einer grundsätzlichen Rede veranlaßt, das Papier in entscheidenden Punkten neu zu interpretieren und damit seine Grundlagen zu widerrufen. Er erneuerte die alten Feindbilder und bestritt wie in der Zeit vor dem Papier, daß der Westen friedensfahig sei. HAGER meinte vielmehr wie in alten Zeiten, "daß der Imperialismus friedensfähig gemacht werden muß". Im Widerspruch zu der Norm des Papiers verurteilte er Kritik aus der Bundesrepublik an Menschenrechtsverletzungen in der DDR wieder als Einmischung in deren innere Angelegenheiten.

Dem Widerruf entsprach das Vorgehen des SED-Regimes gegen die innergesellschaftliche Opposition. So wurden am 25. 11. 1987 die Räume der Umweltbibliothek in der Berliner Zionsgemeinde durchsucht, Materialien beschlagnahmt und Oppositionelle festgenommen. Im Zusammenhang mit der Demonstration zum Gedenken an ROSA LUXEMBURG und KARL LIEBKNECHT wurden im Januar 1988 über einhundert Demonstranten und im Anschluß daran weitere Bürgerrechtler verhaftet und nach Protesten in die Bundesrepublik abgeschoben. Die Repression gegen andere Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsgruppen, Schikanen gegen Ausreisewillige häuften sich, die Abgrenzung des SED-Regimes gegenüber dem Reformkurs GORBATSCHOWs verschärfte sich bis hin zum Verbot der sowjetischen Zeitschrift "Sputnik" für die DDR.

Die Grundwertekommission der SPD reagierte auf diese Demontage von Geist und Buchstaben des gemeinsamen Papiers zunächst mit einer Presseerklärung. Am 29. 3. 1989 schließlich ließ sie eine ausführliche Stellungnahme folgen, die allerdings in der westdeutschen Öffentlichkeit nur wenig beachtet und von der SED-Führung ignoriert wurde:

"Wer Personen verhaftet und bestraft, weil sie an friedlichen Demonstrationen teilgenommen haben, wer Menschen benachteiligt verfolgt oder bedroht, weil sie in unabhängigen gesellschaftlichen Gruppen am Dialog über sie betreffende gesellschaftliche Angelegenheiten teilnehmen, wer Ausreisewillige diskriminiert und schikaniert, wer Personen an der Einreise auf das eigene Territorium hindert, weil sie unliebsame Kritik geäußert haben, wer die Verbreitung von Zeitungen und andere Druckmedien zur freien Urteilsbildung erschwert oder verhindert, kann nicht den Anspruch erheben,

ermöglicht und fördert. Dies aber hat das gemeinsame Papier als Norm einer politischen Streitkultur gefordert. ... Der Dialog nach außen, über Systemgrenzen hinweg und der Dialog im Inneren lassen sich nicht trennen. Wer den Dialog im Inneren verweigert, gefährdet auch den nach außen."

Damit stellte die SPD-Grundwertekommission klar, daß auch ihre eigene Bereitschaft, den Dialog mit der SED-Führung fortzusetzen, davon abhing, daß die SED im Inneren den Dialog nicht langer verweigerte. Der Abbruch der Gespräche, der in dieser Zeit intensiv erwogen wurde, wurde aufgeschoben, da damit die Möglichkeit eines Einwirkens auf die SED-Führung gänzlich preisgegeben worden wäre, was die Verhältnisse in der DDR zu Lasten der Menschen und der Opposition weiter verschlechtert hätte. Ob trotzdem ein Abbruch damals angezeigt gewesen wäre, muß offen bleiben. Praktisch hat der Vorsitzende der Grundwertekommission, ERHARD EPPLER, bei seiner Rede vor dem Bundestag am 17. 6. 1989 diesen Abbruch vollzogen, als er die amtierende SED-Führung als Gesprächspartner abschrieb und auch den Begriff der Existenzberechtigung präzisierte: "Was die Existenzberechtigung angeht, möchte ich heute hinzufügen: Keine Seite kann die andere daran hindern, sich selbst zugrunde zu richten!"

5. Das Papier im Rückblick

Der Zusammenbruch des kommunistischen Herrschaftssystems hat die Infamie des Herrschaftsapparates, das Ausmaß der Mißwirtschaft, seiner Reformunfähigkeit endgültig offengelegt. Viele fragen sich deshalb heute, ob sie all dies nicht hatten deutlicher sehen, ausdrücklich beim Namen nennen und verurteilen müssen. Vieles stellt sich heute anders dar als vor dem Fall der Mauer. Propagandistische Vereinfacher vergessen allerdings, daß auch eine genaue Kenntnis des ökonomischen Zustands der DDR eine vertretbare Alternative zur Entspannungspolitik nicht hatte begründen können. Auch dann wäre das Drängen auf Liberalisierung und Demokratisierung, die Fortsetzung der politischen Kooperation die einzig verantwortbare Politik gewesen, wenn man nicht auf seiten der kommunistischen Machthaber die Neigung verstärken wollte, den letzten Ausweg in Selbstisolation und offener Gewalt zu suchen.

Nichts spricht dafür, daß der Kommunismus durch eine Politik der konsequenten Isolierung früher zusammengebrochen wäre: China konnte nur wagen, seine Demokratiebewegung niederzuwalzen, weil es unvergleichlich stärker als die DDR außenpolitisch isoliert war. In Europa hätte konsequente Abgrenzung die kommunistische Herrschaft eher stabilisiert, weil sie die Aufrechterhaltung der Feindbilder erleichtert hatte.

Die Chance der Entspannungspolitik beruhte darauf, daß die Sowjetunion und ihre Satelliten ein Interesse an der Anerkennung der Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges, aber auch an der Erweiterung der Wirtschaftsbeziehungen, namentlich an westlichen Krediten hatten. Deshalb waren sie bereit, die Selbstisolierung des "sozialistischen Lagers" zu lockern, sich auf den KSZE-Prozeß einzulassen. Deshalb riskierten sie den Versuch, die Erweiterung der außenpolitischen Spielräume durch den KSZE-Prozeß mit der Abschirmung seiner innenpolitischen Auswirkungen in Gestalt von Menschenrechtsforderungen zu verbinden. Das war der widerspruchsvolle Versuch, das ideologische Feindbild außenpolitisch zu entschärfen, es aber als innenpolitische Legitimationsbasis zu erhalten. Auch an dieser doppelbödigen Strategie ist das kommunistische System am Ende gescheitert.

Als das SPD-SED-Papier im "Neuen Deutschland" veröffentlicht wurde, war es für jedermann zitierbar. Das mußte die doppelbödige Strategie der SED-Führung auf Dauer schwachen. Was die beiden Parteien miteinander diskutierten, hätte konsequenterweise innerhalb der DDR nicht mehr mit Sanktionen belegt werden dürfen. Es war insofern aus Gründen der Machtsicherung logisch, daß die SED - zu spät - die Diskussion des Papiers unterband.

Entspannungspolitik zwischen beiden deutschen Staaten hatte besondere Schwierigkeiten zu berücksichtigen. Die SED-Führung war reformfeindlicher als andere kommunistische Parteien. Trotzdem lag der Schlüssel für grundlegende Veränderungen in Moskau. Dadurch waren die Spielräume der Oppositionsgruppen in der DDR gering, zumal es für sie im Unterschied zu den Oppositionsbewegungen in den anderen kommunistischen Diktaturen keine Berufung auf eigenständige nationale Traditionen gab. Viele Oppositionelle waren in die Bundesrepublik gegangen oder abgeschoben worden. Die Chance und die Spielräume der oppositionellen Gruppen der DDR sollten daher im nachhinein nicht überschätzt werden. Bei allem Respekt vor ihrem Mut, eine breite Oppositionsbewegung wie etwa die Solidarnosc in Polen konnte in der DDR nicht entstehen. Ohne den vermittelnden Schutz der evangelischen Kirche wäre die SED sicher rücksichtsloser gegen sie vorgegangen.

Die These, daß durch massive Unterstützung der Oppositionellen und eine frühe demonstrative Abgrenzung von der SED deren Herrschaft schneller zusammengebrochen wäre, ist nicht plausibel. Es war die Fluchtbewegung, die das Ende der DDR einläutete. Und es war die Verunsicherung des Politbüros durch den GORBATSCHOW-Kurs, die Diskussion innerhalb der SED und die Friedlichkeit der Demonstrationen, die den vorbereiteten Gewalteinsatz in Leipzig doch noch verhindert haben.

Auch dies ist bereits ein Stück Geschichte, und die Zusammenhänge sind von vielen vergessen. An die Stelle nüchterner Rückblicke tritt vielfach erneut ein deutschlandpolitischer "Fundamentalismus", der weismachen will, nur eine Politik der bedingungslosen Konfrontation habe Bestand vor dem moralischen Urteil der Geschichte. Nachdenklicher und treffender scheinen uns da die Bemerkungen von HERBERT RIEHL-HEYSE zu sein: "Die Zukunft ist inzwischen Gegenwart und bekanntlich nicht so furchtbar fröhlich. Könnte das auch mit der Tatsache zusammenhängen, daß sich nun niemand mehr erinnern will im vereinigten Deutschland an die Irrtümer, Hoffnungen und Anstrengungen jener grauen Vorzeit, die gerade ein paar Jahre vorbei ist?"

6. Der moralische Aspekt

Alles politische Handeln geschieht auf eine Zukunft hin, die der Handelnde nicht kennt. Insofern ist Irrtum unvermeidlich. Natürlich hat die Grundwertekommission der SPD in den 80er Jahren die SED ernster genommen als sie, von heute aus gesehen, zu nehmen war.

Schuldhaft wird ein Irrtum - auch bei besten Absichten -, wenn dadurch vermeidbares Unheil angerichtet wird. Dies läßt sich im Falle des SPD-SED-Papiers nicht belegen. Im Gegenteil: Gerade wenn das kommunistische System schon 1987 zum Untergang verdammt war, kam es darauf an zu verhindern, daß der gewaltige Sicherheitsapparat, auf den sich die SED stützte, gegen die aufbegehrenden Menschen eingesetzt würde.

Ein Blutbad wäre wohl nicht abzuwenden gewesen, wenn es im Jahre 1989 nur eine Bewegung gegen die SED, nicht auch innerhalb der Staatspartei gegeben hatte. Zu dieser Bewegung innerhalb der SED hat das SPD-SED-Papier in einem Ausmaß beigetragen, das erst sorgfältige historische Forschung wird abschätzen können.

Mitglieder der Grundwertekommission

Stand: August 1992

Vorsitzender:
WOLFGANG THIERSE, MdB

stellv. Vorsitzende:
Dr. THOMAS MEYER
Prof. Dr. BARBARA RIEDMÜLLER-SEEL

Mitglieder:
Prof. Dr. DETLEV ALBERS
ANGELIKA BARBE, MdB
Prof. Dr. GÜNTER BRAKELMANN
Dr. ERHARD EPPLER
Prof. Dr. HELGA GREBING
Dr. CHRISTINE HOHMANN-DENNHARDT
Dr. KLAUS MEHRENS
Dr. HANS MISSELWITZ
Dr. ELISABETH MOLTMANN-WENDEL
Dr. EBERHARD MOTHS
Dr. EDELBERT RICHTER
Prof. Dr. FRITZ SCHARRPF
Prof. Dr. RICHARD SCHRÖDER
Prof. Dr. JOHANO STRASSER
REINHARD UEBERHORST
Prof. Dr. ERNST U. VON WEIZSÄCKER

Korrespondierende Mitglieder:
Prof. Dr. IRING FETSCHER
MARTIN GUTZEIT
Prof. Dr. SUSANNE MILLER
Prof. Dr. PETER VON OERTZEN
HEINZ RAPP
Dr. HANS-JOCHEN VOGEL, MdB

Berater:
WOLF-MICHAEL CATENHUSEN, MdB
MARKUS MECKEL, MdB
MICHAEL MÜLLER, MdB

Sekretär:
BURKHARD REICHERT


Herausgeber. Vorstand der SPD, Sekretariat der Grundwertekommission, Ollenhauerstraße 1, 5300 Bonn 1
Druck. Courir-Druck GmbH, Königswinterer Straße 115, 5300 Bonn 3
9-92 - Al - 5 - Bestell-Nr. 320 033 4

 

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