Buchbesprechung zu GABRIELE MENDLING (LUISE ENDLICH): Neuland.

Diese Besprechung ist die Langfassung einer Leser-Rezension, die ich für Amazon schreiben wollte. Leider muß man sich dort auf 1000 Wörter beschränken, weshalb ich den vollständigen Text nur hier veröffentlichen kann. Ohne die Abweichungen im einzelnen kenntlich zu machen, weise ich darauf hin, daß man als Rezensent bei Amazon das Urheberrecht abtritt, also © www.amazon.de


meine Motivation zum Kauf des Buches

Ich bin auf das Buch durch einen Beitrag im ARD-Magazin Kontraste über "Wessimobing in Frankfurt/Oder" aufmerksam geworden. Als Westdeutscher, der das Beitrittsgebiet vor allem durch Berichte kennt und wegen der berichteten Fremdenfeindlichkeit (die sich z.B. auch gegen westdeutsche Schulklassen richtet) wenig Neigung verspürt, sich dort niederzulassen, habe ich eigene Eindrücke nur bei Tagesausflügen von Westberlin oder der Transitstrecke aus sammeln können.

Der Umzug

Das Buch hat eine Ärztegattin aus Westdeutschland geschrieben. "Ärztegattin" soll nicht ihre eigenen Leistungen herabsetzen -

aber ihr Leben drehte sich doch um ihren Mann. Eigene berufliche Interessen stellte sie ebenso regelmässig zurück wie die ihres Sohnes:

Hat der Mann überzeugende Argumente für die häufigen Wohnortswechsel? Diesmal eher nicht:

Aber sie macht anscheinend nicht mal den Versuch, sich gegen ihn durchzusetzen, obwohl sie in Frankfurt an der Oder noch keine PatientInnen hat und selbst die als Praxis gedachten Räume noch nicht dafür hergerichtet sind. Man weiß es schon vorher, nur die Hauptfigur nicht. Sie muß später einsehen:

Dazu paßt gut, daß sie die Renovierung der bisherigen Wohnung nicht ersetzt bekommen:

Wer sich wie sie etwas in den Kopf gesetzt hat, läßt sich dadurch nicht aufhalten.

Auch typische Erlebnisse von Hauskäufern oder Bauherren bleiben ihnen nicht erspart: Fehlerhafte Arbeiten der Handwerker, marode Substanz, Zeitverzögerungen, schlechte Arbeitsmoral, Diebstahl von Baumaterialien. Soweit nichts Besonderes, auch wenn man nicht zwischen West und Ost wechselt. Ich wohne im Rheinland und weiß, wovon ich rede.

Schließlich muß sie erkennen:

Verhaltensforschung 1: Die Ossis

Das eigentliche Thema ist aber das Verhalten der Ossis, denen sie begegnet. Auch ohne fachwissenschaftliche Ausbildung hat sie eine ethnologische Studie aus teilnehmender Beobachtung geschrieben. Dafür gebührt ihr Dank.

Wir erfahren etwas über die Weinvorlieben der Bevölkerung des Beitrittsgebietes:

Wir erfahren etwas über die Unbefangenheit von Ossis, sich (halb-)nackt zu zeigen:

Wir erfahren zwar nicht, daß in Frankfurt an der Oder die Sonne mehr als eine halbe Stunde früher aufgeht als hier bei mir in Aachen, aber welche Folgen das für die Schulen hat:

Die Reaktion auf E-Musik (beim Stimmen der Instrumente) wird eindrucksvoll beschrieben:

Sie kommt in ein Dienstleistungsnotstandsgebiet: Sie bekommt ein Frühstück mit kaltem Ei und ohne Kaffee, der Frisör will ihr keine Dauerwelle machen (S. 32ff). Die Serviceorientierung ostdeutscher Verkäuferinnen kann ich mir gut vorstellen, wenn ich lese:

Aber besonders beeindruckend finde ich die Schilderung der bekannt unmöglichen Fahrweise der Ossis:

Verhaltensforschung 2: Der Gatte

Ihr Mann bleibt zwar im Buch im Hintergrund, es wird aber deutlich, das er oft ihre Entscheidung mit seinen Bemerkungen bestimmt. Auch weiß er - für einen Gynäkologen erstaunlich - wie man Gänse schlachtet und ihnen die Federn abreißt, wie ein Haus renoviert werden muß, wie man mit einem nicht stubenreinen Hirtenhund umzugehen hat, welches Essen die Nachbarn erwarten und welche Schmerzen des Sohnes simuliert sind. Bloß schade, daß er sich dabei so oft irrt. Seine Frau lehnt sich nicht auf. Ihre Blindheit und Kritiklosigkeit, die sie beschreibt und die mir als Leser auffallen, scheinen ihr völlig entgangen zu sein. Ein paar Beispiele:

Besonders gern erklärt Fritz, der Gynäkologe, den Einheimischen, welche Relikte der Vergangenheit sie sich abzugewöhnen haben:

So oft wie er seinen Arbeitsplatz gewechselt hat, sollte ihm eigentlich schon mal die Stellenanzeigen-übliche Formulierung "junges dynamisches Team" aufgefallen sein. Ist ein Team kein Kollektiv? Wie soll die Krankenschwester ihre eigenen Ideen einbringen, wenn ihre Idee, "Kollektiv" zu sagen, so niedergemacht wird?

Seine Kritik an Äußerlichkeiten mißfällt mir. Die automatische Solidarisierung der Ossis, als er sich überreagierend gegen noch vorrätige, klinikinterne Formulare auflehnt, auf denen "Bibliotheken der DDR" steht, führt zur Überreaktion auch der Angegriffenen:

Verhaltensforschung 3: Die Autorin

Die Autorin hat so wenig Ahnung vom Osten, daß sie sich sogar über Straßennamen mokiert:

obwohl sogar die Einkaufsstraße in Westberlin-Neukölln so heißt. In Aachen gibt es sogar eine Karl-Marx-Allee (die aber nie Stalin-Allee hieß)

Sie begegnet der Urbevölkerung zunächst mit Bewunderung, Scheu und Schuldgefühlen:

Später scheint sie sich über die Scheu der anderen zu wundern, ohne sich an ihre eigene zu erinnern:

Was könnte sie da mehr erfreuen, als die Personen (meist Frauen), die ein offenes Wort wagen. Doch wenn sie von solchen Vorfällen berichtet, klingt es auch ablehnend:

Diese Episode wurde auch in Kontraste berichtet. Nicht aber, was kurz danach passierte:

Diese Frau Scheffler verhält sich doch so, wie der Mann der Autorin gefordert hat (s.o.) Sie bringt eigene Ideen ein, paßt sich nicht dem "Kollektiv" an. Nun ist das plötzlich falsch.

Auch das m.E. berechtigte Bedürfnis, sich nicht gegen Kollegen ausspielen zu lassen, begrüßt die Autorin anscheinend nicht:

Essen und Trinken nehmen einen erstaunlich großen Anteil in den Beschreibungen der Autorin ein, gefolgt von der Kleidung. Ich bin nicht so kultiviert und staune über solche Gewichtung:

Ich wohne selbst beengt und müßte demnach jeden Abend mit Käse und Rotwein verbringen. Bisher habe ich das weder gemerkt noch gar vermißt. Immerhin kann ich Weißwein und Rotwein unterscheiden, weiß aber nicht, zu welcher Gruppe Bordeaux gehört.

Die Spekulationen der Autorin und ihres Gatten darüber, was ihre Nachbarn gerne essen würden, sind eine groteske Mischung von Realismus und Illusion:

Obwohl die Autorin weiß und einwendet:

Es kommt wie es kommen muß: die Nachbarn sind keine Gourmets (Fritz hatte Recht), hätten sich auf eine Lammkeule gefreut (Luise hatte Recht), verstehen Raclette nicht (ging mir beim ersten mal vor 10 Jahren genau so) und mögen den Wein nicht (beide hatten sich geiirt).

Die eben noch so verächtlich beschriebenen Nachbarn wissen wohl, woran bei einem Ausflug mit Hunden zu denken ist:

Für die Lebensbewältigung scheint mir das wichtiger zu sein, als Weinsorten schmecken zu können.

Das Selbstbewußtsein der Autorin wächst ENDLICH, sie erkennt es aber nicht, sondern deutet es als "Durchdrehen":

Zwischendurch fällt sie immer wieder in die Naivität zurück, die sie schon den Umzug nicht verhindern ließ (s.o.):

Es ist doch (für mich als Außenstehenden) offensichtlich, daß das rausgeworfenes Geld ist und sich diese "Werbung" gegen sie wenden kann, wenn sie nächstes mal wieder so viel für so wenig Bezahlung liefern soll. Nur sie merkt es nicht.

Ihr Selbstbewußtsein steigert sich schließlich so sehr, daß sie sich nicht mal mehr von ihrem Mann aufhalten läßt:

Wir gifteten uns vor allen Gästen an, während Fritz fassungslos danebenstand. "Luise, ich bitte dich!" flehte er. "Bitte hör' auf, dich für mich zu entschuldigen! In dieser Stadt wird nichts dazu beigetragen, daß sich Ost und West annähern, daß sich Menschen überhaupt füreinander interessieren. Ein Akzent - egal welcher - macht es möglich, daß Menschen als Pollacken beschimpft werden. Man redet von Ausländerfeindlichkeit und hat es mit massivem Fremdenhaß zu tun. Ich kann verstehen, daß die Mutter des englischen Studenten, der hier an seinem allerersten Tag zusammengeschlagen wurde, ihren Sohn zurückgeholt hat. Ich habe mich bisher in jedem Ausland willkommener gefühlt als hier in dieser Stadt." (S. 172)

Zusammenfassung

Verhalten und Einstellung der Autorin sind widersprüchlich. Sie gewichtet nicht und unterscheidet nicht zwischen ernsten Defiziten in der politischen Kultur und harmlosen Neigungen und Vorlieben, die sie nicht kennt, sondern findet alles gleich schlimm.

Dadurch ist es mir nicht möglich, dem Buch mehr als 3 Sterne zu geben. Auch das Preis-Leistungsverhältnis scheint mir ungünstig.

Für das Buch spricht, daß die Autorin auch eigene Unzulänglichkeiten nicht verschweigt und die Munition zur Kritik an ihrem Rundumschlag selbst liefert. Auch ist anzuerkennen, daß sie durch die schwere Zeit im Beitrittsgebiet reift.

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