Und in diese Stille klang das Weinen eines Kindes. Es schien von unter der Brücke zu kommen, die die Soldaten die «Bucklige» nannten. Eine dünne, schluchzende Stimme rief: «Mutti! Mutti!» Alle Kinder weinen in einer Sprache. Man kann sich an dieSchwierigkeiten des Frontlebens gewöhnen. Man kann den Hunger überwinden. Man kann sogar die Todesangst besiegen. In den Armen von Massalow waren viele seiner Kameraden gestorben. Er selbst wurde am Mamajewhügel während der Wolgaschlacht zweimal verschüttet. Aber niemals darf man gleichgültig werden, sich mit menschlichem Leid abfinden, solange man etwas dagegen tun kann. «Wie in einem Zeitraffer gehen einem in solchem Augenblick Eindrücke, Erlebnisse durch den Kopf», sagte Nikolai Iwanowitsch. Er dachte an die junge Frau, die er im Kessel von Kastornaja hatte liegen sehen: jung, schlank und sogar in ihrem Tode schön. Neben ihrlag ihr erschossener Sohn. «Deshalb müssen wir siegen», hatte der Regimentskommissar damals gesagt. Er dachte an die Kinder, die ihm hier in Berlin begegnet waren: schmutzig, mager, mit durch die Haut schimmernden Äderchen; Kinder, die ihm mit bittenden Augen eine leere Konservendose oder die Hand entgegenstreckten. Er wollte, daß diese Kinder, auch das jetzt weinende, in einem neuen, freien, schönen Deutschland leben. Nikolai Massalow trat vor den Kommandeur: «Gestatten Sie, daß ich das Kind aus der Feuerlinie hole?» |
«Einverstanden. Aber Sie müssen pünktlich zurück sein. In 40 Minuten beginnt der Angriff.» Und er kroch hin zur Buckel-Brücke. Ein kurzer Weg. Doch 60 Meter können so lang sein, daß man niemehrzurückkehrt. Nikolai war erst 23 Jahre alt. Er hatte noch nie ein Mädchen geliebt. Zu Hause wartete seine Mutter auf ihn. Und er wollte nicht fallen in diesen letzten Stunden des Krieges. Tief preßte er sich auf das Pflaster, wenn die MG-Geschosse über seinen Kopf pfiffen. Mit dem Instinkt des Soldaten suchte er die irgendwo versteckten Minen zu umgehen, Daß der Schreihals nur nicht inzwischen ins Wasser fällt, dachte er. Der Kanal soll tief, sein. Ein paar Meter noch.Alserauf der Brücke war, hielt er prüfend den Helm hoch. Eine Kugel schlug ihm den Helm aus der Hand. Einen Augenblick zögerte er noch, dann schwang er sich über die Brüstung. Vor ihm lag eine tote Frau und neben ihr das schreiende Kind: ein Mädchen, zwei oder drei Jahre alt vielleicht; blonde Löckchen fielen ihm in die Stirn. Ihre letzte Kraft zusammennehmend, war seine Mutter unter die Brücke gekrochen, nachdem sie die Tochter mit einem Kleidergürtel an sich gebunden hatte. Und wieder 60 Meter, wieder MG-Geschosse und Minen. Als Nikolai Massalow mit dem Kind auf dem Arm zu den Seinen zurückkehrte, begannen die Geschütze zu feuern, so als schössen sie Salut, als wollten sie in dem kleinen Mädchen das künftige, das bessere Deutschland grüßen. |